Martin Stoll (Universität Trier)

Während der Vorbereitung zur Ausstellung „476 – Der Untergang des römischen Reiches“ erregte ausgerechnet diese unscheinbar wirkende Darstellung, ein Mosaik, mein Interesse am meisten. Das Bild entstand vermutlich im östlichen Reichsteil, in Kleinasien, in der zweiten Hälfte des 5. Jh. Es bleibt allerdings ein Rätsel, welche Kirche es zeigt. Beim wiederholten Betrachten dieses Bildes wurde sie für mich, aufgrund ihres modellhaften, unspektakulären Charakters, zu einem Symbol für alle Kirchen der damaligen Zeit. Davon inspiriert begann ich mir die Umstände aus christlicher Perspektive vorzustellen, als das westliche römische Imperium unter der dem gewaltigen Ansturm der Barbaren zerfiel. Ich fragte mich immer wieder, welchen Einfluss dieser Kollaps auf den parallelen Aufstieg der römischen Kirche hatte, wie sich diese beiden Entwicklungen bedingten. Trotz des Unterganges des weströmischen Reiches – was mir bizarr vorkam – expandierte die „römische“ Kirche ungebrochen weiter. Um dieses scheinbare Paradoxon – Untergang und Aufstieg, Reich und Kirche – zu ergründen, ließ ich meiner Phantasie freien Lauf. Ich stellte ich mir vor, dass ein Expertenteam in jener unbekannten Kirche Anfang 2022 ein beschädigtes Papyrusfragment gefunden hätte, das die Stimmung christlicher Kreise angesichts der akuten Bedrohungen widerspiegelt. Trotz einiger verloren gegangener Textstellen konnte es den Inhalt in Fragmenten entschlüsseln und übersetzen. Aufgrund der dargebotenen Informationen schätzte dieses Gremium das Alter des Dokumentes auf das Jahr 476, wenige Monate nachdem der germanische Heerführer Odoaker in einer Meuterei den letzten weströmische Kaiser Romulus abgesetzt hatte. Es vermutet zudem, dass der lateinische Text von einem Bischof aus dem Stand der clarissimi stammt, alsoder spätantiken Senatoren. Das würde das große Wissen des Verfassers des Dokumentes erklären, der viele Informationen zur Geschichte der Kirche Roms zur Zeit des Zerfalls des weströmischen Reiches kompakt zusammenfasst.
Hier ein Auszug aus dem Papyrus-Text, wie ich ihn als Geschichtsstudent fingieren würde. Die Klammern und Zeichen innerhalt des Textes spiegeln den Erhaltungszustand des Papyrus wider. (Diakritische Zeichen des sog. Leidener Klammersystems).
„ [- ca. 6 – ] seit At<t>ila mit seinen Hunnen aus den mäotischen Sümpfen beim Eismeer vom Ost(en) her aufzog und in dessen Folge immer mehr wilde Scharen an Ger(manen) unkontrolliert die Grenzen überwanden, in entsetzlichen Kriegen in ihrer Be[r]serkerwut vandal[…], Städte und Ortschaften plündern und sie in Brand setzen, während sie dabei fürcht[er]liche Kriegslieder grölen, bricht das Imp(erium) dahin. In unseren Reihen macht sich eine Welt[un]tergangsstimmung [breit]. [- ca. 17 -]
Die Parusie traf nicht ein, im Gegenteil: [- ca 9. -] Barbaren plünderten Rom ganze drei Tage und N[ä]chte lang! Ist die Ungläubig[keit] vieler Römer, die vor dem Angriff noch ihren alt(en) Göttern opfern wollten, die Ursache für diese Strafe des einzigen und allwiss…?
Wie im Matthäus-Evangelium (Mt 16,17-19) verkündet, hatte der Ap(ostel) Petrus aus Bethsaida im Auf[trag]e Jesus die neue Kirche in der Hauptstadt des römischen Weltreiches gegründet.
Um unsere geistlichen Ideale verwirklichen zu können, mussten wir Wege finden, welt[lich] zu herrschen. [-ca. 3] gezielt imit[ierten wir die Hi]erarchie des Imp(eriums), indem wir aus den politischen Erfahrungen Lehren zogen. Jesus hatte den römische B(ischof) zu unserem D(ominus) N(oster) bestimmt. In jeder Stadt (civitas) setzten wir durch eine Wahl auf Leben[szeit] einen Bischof mit Vollmachten ein, dem alle Kirchenmitglieder der Stadt unterstellt waren. Im Falle des Falles führte er nach des Allmächt… [Ex]komm(unikationen) durch. [-ca. 6-] ein Viertel uns[eres Verm]ögens verwendeten wir darauf, den in unserer Armenliste (matricula pauperum) eingetragenen Men[schen] zu helfen. Gott bewahre, das betraf mehr als die Hälfte der Bevölkerung Roms! Wir stell[t]en ihnen unentgeltlich Getreide zur Verfüg[ung]. Durch unsere Erfolge konnten wir auch die reiche römische Ober[schicht] zum Übertritt zum einzig wahren Glauben bewegen![- ca. 15 -]
Nachdem der heilige Silvester – wie alle Christen wissen – Kaiser Konst[ant]in von seinem fürcht… Lepraleiden geheilt hat, hob die[ser nicht nur] die grausamen Verfolgungen gegen die Christen auf, es kam auch zu einer von Gott gesegneten Zusammenarbeit des Kaisers mit dem römischen… Wir legten aber Wert darauf, auf Jesu… unsere Unabhäng[i]gkeit zu bewahren. [-ca. 6] wir richteten Bischofsger(ichte) ein, auf die jede Partei zu jeder Zeit Anspruch hatte! Unbestechlich galten unsere Priester [- – – ]. Auch kauften wir Kriegsge[fang]ene frei und sorgten für eine humanitäre Behandlung von Gefängnis[insas]sen. Immer mehr welt[lich]e Aufgaben überließen uns [die Kai]ser, während der Einfluss der Curien (Stadträte) schwächer wurde. Die Bisch(öfe) beteiligten sich am Bau[wesen] und ließen [-ca. 10-] wie Krankenhäuser, Armen[häuser] und Altenheime errichten und gaben [so viel]en Städten ihren heil(igen) christlichen Charakter. Amen! Die Kaiser vertrauten uns und unsere Mitglieder [begannen] für diese zu beten, als Friedensbewahrer der Welt. Unsere B[i]schöfe überzeugten diese, im Auftrage des einen Gottes harte antiheidnische Maßnahmen anzuordnen. Die Schließung pag[aner Tem]pel war ein w[i]chti[g]er Schritt zur gott…
Es gibt zwei Gruppen von Heid[en]. Beide sind würdelos. Die einen hängen dem einfältigen, schriftlosen, polytheistischen und graus[a]men Götterglauben an. Tac(itus) berichtet, dass diese Barbaren sogar Me[n]schen[o]pfe[r für Mer]kur verrichten! Nach dessen Bericht sollen sie auch aus dem Schnaufen ihrer Pferde Prophezeiungen fingieren, sowie ihre Kal[ender nach Näch]ten, nicht nach Tagen zählen. Was für ein [Irr]sinn! Die anderen vertreten den christl(ichen) Ar<i>anismus. Deren Irrsinn besteht darin, aus Dumm[heit] und Unkenntnis Jesus seine Göttlichkeit ab[zu]sprechen.
Der neue König Odoaker [i]nformierte [sich zwar üb]er die Papstwahl, der arianische Analphabet hatte [aber ansonsten kein] Interesse für unsere Angelegenheit… [- ca. 10 -] nach dem [Absetzen des letzten weströmischen Kai]sers, ist unser Papa aber mit dem barbarischen rex und dem oströmischen Kaiser in Verhandlungen. Wir sind uns auch sicher, dass die Ko[o]peration mit den neuen ger[manischen aristokratisch]en Schichten zunehmen wird. Wir werden nicht nur in den Städten, sondern auch ger[ade] in dem bisher vernach[lässigten] ländlichen Raum expandieren. [- ca. 7 -]
<<Am Ende wird der wahre Glauben siegen! Durch unsere Heilsbotschaft geben wir vielen Menschen in dieser kriegerischen Zeit Trost und Hoffnung. Unsere prachtvollen Bauten geben ihnen Einblick, wie es im Paradies aussieht. [- ca. 4 -] Im Namen des Vaters, des Heiligen Geistes, Amen. >>“
Ein solches antikes Dokument ist zwar fiktiv, dessen Informationen spiegeln aber wahre Begebenheiten wider. Es würde zeigen, dass die Kirchenstrukturen zwar in die weltliche Macht des römischen Imperiums eingebunden waren. Nach dem Machtverfall der weströmischen Administration aber erfolgte die Kirchenpolitik getragen von den neuen germanischen und oströmischen Herrscherschichten. Der Untergang des Reiches und der Aufstieg der Kirche waren also zwei unterschiedliche, wenn auch zum Teil parallel ablaufende Prozesse.
Abb.: Mosaik mit Kirchendarstellung, 2. Hälfte 5. Jh. n. Chr. (©Musée du Louvre, Département des Antiquités grecques, étrusques et romaines, Paris, Inv. Ma 3676 (MNE 613))