Irdisches Leid, himmlischer Segen: Augustinus und die römischen Flüchtlinge von 410

Martin Stoll (Universität Trier)

Eine westgotische Armee unter Führung des Alarich verschaffte sich am Nachmittag des 24. August 410 Zugang zur Metropole Rom und plünderte sie drei Tage lang. Dieses Ereignis markiert den Beginn des schleichenden, aber unaufhaltsamen Untergangs des ehemaligen Weltreichs. Teile der christlichen Bevölkerung Roms flohen daraufhin nach Afrika, in die Küstenstädte Hippo Regius und Karthago. Sie waren schwer traumatisiert und in ihrem Glauben erschüttert. Wie konnte Gott zulassen, dass das ideologische Zentrum des Reiches in die Hand der Barbaren fiel? Im Exil suchten sie nach theologischen Antworten. Welche vermochte ihnen der Kirchenvater und Bischof von Hippo Regius, Augustinus, zu geben, der einige Flüchtlinge seelsorgerisch betreute und eine Abwendung vom Christentum befürchtete? 

Von Augustinus sind uns ganze vier Predigten zu diesem Thema erhalten und auch sein größtes Werk, De Civitate Dei (Über den Gottesstaat), beschäftigt sich damit. Die Kernthese des Gelehrten lautete, dass die Plünderung Roms – mit dem damit verbundenen Leiden einer halben Million Menschen – eine strenge aber gerechte Strafe Gottes gewesen sei und dass von deren richtiger Interpretation das zukünftige Seelenheil der Geflohenen abhinge: Sie sollten ihre alte sündenhafte dekadente Lebensweise bereuen und ihr abschwören (https://bkv.unifr.ch/de/works/cpl-313/versions/zweiundzwanzig-bucher-uber-den-gottesstaat-bkv/divisions/3).

Augustinus klagte forsch an: De facto sei Rom die Hauptstadt eines Reiches, das von dämonischen Kräften beherrscht sei. Dass viele Römer ihren Besitz verloren haben, geschehe ihnen recht. Sie hätten ihre Schätze besser im Himmel sammeln sollen. Wenn sie wirklich fromm gewesen wären, dann hätten sie ohnehin keine großen Besitztümer anhäufen dürfen. Weil er davon felsenfest überzeugt war, relativierte er das Leid der Flüchtlinge. Die Leichenberge könnten einen wahren Gläubigen nicht erschüttern! Ebenso wenig, wenn Christen gefoltert und in die Sklaverei verkauft oder Frauen geschändet wurden. Er erklärte seinen Schützlingen das erlittene Leid als Prüfung. Gerade weil Gott die Menschen liebte, musste er sie bestrafen! Schließlich wurde Rom nicht wie Sodom dem Erdboden gleichgemacht. Durch die Menschwerdung Jesu sei offenbart worden, dass Leid und Schmerz im irdischen Dasein ihre Berechtigung als Prüfung der Frömmigkeit hätten. Gottes Sohn habe Schlimmeres erfahren als ganz Rom zusammen. Die Plünderung sei also durchaus im Sinne Gottes gewesen, obwohl er an sich das Gute für die Menschen wolle. Jedenfalls hätten weder die Engel noch die Heiligen die Aufgabe gehabt, eine solche zu verhindern. Mit dem Beginn der christiana tempora habe also die Katastrophe nichts zu tun.

Im Gegensatz zum Heidentum sei das Christentum nicht materialistisch ausgelegt. Um die christliche Heilslehre verstehen und verinnerlichen zu können, sei es elementar wichtig, zwischen Irdischem und Himmlischem streng zu unterscheiden. Augustinus veranschaulichte dies durch die Gegenüberstellung einer irdischen civitas, gemeint ist die Stadt Rom, und einer himmlischen civitas, der sogenannten Gottesstadt. Die irdische civitas Rom sei trotz ihrer Größe, ihres Reichtums und ihrer Bedeutung an das Irdische gebunden und somit vergänglich. Erkennbar sei dies beispielsweise auch an den früheren Plünderungen in heidnischer Zeit. Daher sei das materielle Wohlergehen im irdischen Rom keineswegs erstrebenswert! Im Gegenteil, wer sich von der Gier verführen lasse, verliere seine Seele. Und umso schwerer wiege der Verlust des eigenen Seelenheils als der Verlust von vergänglichem Reichtum! Seine Worte lassen nicht eine Spur von Zweifel erkennen: Wer sich fromm verhalte, egal wie widrig die äußeren Umstände seien, selbst in größter Not, werde im Himmel dafür reich belohnt werden. Denn das Ziel eines jeden wahren Christen solle sein, in die himmlische civitas zu kommen, in die Gottesstadt, wo die Frommen zusammen mit den Engeln und dem allgütigen Herrn leben dürften, wo das wahre Paradies sei.   

Obwohl die Ansichten des Augustinus für uns im 21. Jahrhundert teils wie Zynismus klingen, entwickelten sie sich im Laufe der Zeit zu der einflussreichsten und meistzitierten Kritik der Christen am Heidentum. Die römischen Flüchtlinge konnten vom Kirchenvater dazu bewegt werden, trotz der erlittenen Kriegsgräuel, am christlichen Glauben festzuhalten.

Abb.: Joseph-Noël Sylvestre, Le Sac de Rome par les Barbares en 410 (© Musée Paul Valéry, Sète)

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