Sarah Lisarelli (Université du Luxembourg)

Helena, der liebsten Mutter, Gruß,
Wie erleichtert ich bin, endlich ein Schreiben von dir empfangen zu haben. Ich danke dir, dass du diese Reise auf dich genommen hast. Doch du weißt, Mutter, wie sehr ich mich um dich sorge. Zu lesen, dass du in deinem Alter noch nach Jerusalem gepilgert bist, hat mir doch etwas Unbehagen zugefügt. Es freut mich dennoch zu hören, dass dein Unternehmen erfolgreich war und du das wahrhaftige Kreuz und die heiligen Nägel finden konntest.
Ich weiß, du meinst es gut für mich, und ich sehe, dass auch du dich um mich sorgst. So oft hast du schon versucht, mich zum Christentum zu bekehren. Dennoch konnte ich bisher nicht völlig von den alten Göttern ablassen. Immerhin hat diese Religion so Großes für das Römische Reich geleistet. Dank ihr wurde das Römische Reich groß und mächtig, dank ihr konnte es im Ruhm erstrahlen. Die Götter haben uns über Jahrhunderte Macht und Schutz gegeben. Soll ich das alles einfach ignorieren? Soll ich die Götter und unsere Vorfahren, verleugnen? Was wird mit dem Reich geschehen, wenn die Götter nicht mehr über uns wachen?
Aber vielleicht hast du recht, Mutter, trotz meiner Zweifel. Das Reich hat nicht mehr die Stellung, die es einstmals hatte. Das Volk ist gespalten, es gibt so viele religiöse Unruhen – aber die Christen sind die schlimmsten von allen, mit ihrem ewigen Gezänk untereinander! Bereits letztes Jahr, während des Konzils in Nicäa, wurden so viele Streitpunkte innerhalb des Christentums sichtbar. Doch besonders die, die dem alten Glauben anhängen, nahmen mir es übel, dass gerade ich dieses Konzil einberufen hatte und den Christen so Raum gab, um ihre Debatten zu führen. Die bisherige Ordnung scheint nicht mehr zu funktionieren. Ich sehe, es wird Zeit für einen Wandel. Auch wenn ich meinen Untertanen nicht vorschreiben werde, welche Götter die wahren sind, muss sich etwas ändern. Den alten Glauben werde ich nicht verbieten. Ich werde jenen, die ihm noch anhängen, nicht das gleiche Schicksal auferlegen, welches die Christen zuvor erdulden mussten, als Diokletian und Galerius, die beiden schlimmsten Verfolger, sie jagten. Dennoch bete ich, auch zu Christus, dass meine Untertanen mir folgen und den richtigen Weg für sich wählen. Schon die Schlacht bei Rom, als ich den Tyrannen Maxentius vernichtete, hat mir die Macht des Christengottes demonstriert und mir vor Augen geführt, dass ich in seiner Gunst stehe. Zum Dank habe ich ihn als meinen Schutzgott gewählt und seitdem scheint er mir nicht von der Seite gewichen zu sein. Ich konnte mich stets auf seinen Schutz verlassen. So bin ich überzeugt, dass er auch den anderen Menschen seine Macht zeigen wird.
Ich danke dir für deine Geschenke, Mutter. Sie kamen gemeinsam mit deinem letzten Brief an. Sie werden uns Kraft geben, diesen Neuanfang zu wagen. Ich bin überzeugt, dass Gott diese Übergabe begrüßen wird und damit auch künftig über die Christen wachen wird. Mit dem Nagel, den du in mein Zaumzeug hast einarbeiten lassen, werde ich meine Untertanen leiten, wie einst Christus seine Jünger geleitet hat. Stammt er wirklich von der Kreuzigung? Zu deiner Frage, ob der zweite Nagel eher in einen Helm oder ein Diadem eingearbeitet werden soll, kann ich dir keine Antwort geben. Ich kann mich nicht entscheiden. Wähle du und lass es eine Überraschung für mich sein. Wenn du dich für das Diadem entscheidest, werde ich ihn stets auf meinem Kopf tragen, er wird mich stets an die göttliche Präsenz erinnern und mich leiten. Wenn du ihn doch in einen Helm umarbeiten lässt, so werde ich ihn in kommenden Schlachten tragen und Gottes Schutz wird mir immer garantiert sein.
Mit diesen heiligen Symbolen werde ich die Welt neu ordnen. Ich werde der erste christliche Kaiser sein. Ich bin zuversichtlich, dass immer mehr meiner Untertanen erkennen werden, dass der Christengott mächtiger ist als die alten Götter und sich ihm anschließen werden. Dennoch werde ich sie nicht zu dieser Einsicht zwingen, sie sollen dies aus freien Stücken entscheiden. Das Heidentum zu verbieten, würde die religiösen Spannungen im Volk nur weiter fördern. So wahr ich lebe, soll kein Heide verfolgt oder unterdrückt werden. Jesus Christus hat Nächstenliebe gepredigt und diese sollten wir ihnen auch zukommen lassen, sowie die Zeit, die sie brauchen, um einzusehen, dass das Christentum die einzig wahre Religion ist.
Ich blicke voller Zuversicht in die Zukunft. Das Christentum wird immer stärker werden, sich immer weiter ausbreiten, und eines Tages überall in der Welt verstreut sein. Ich verspreche dir, Mutter, dass ich mich noch vor meinem Tod taufen werden lasse. Sorge dich nicht um meine Erlösung, wir werden beide das ewige Leben genießen. Und glaube mir, für deine christlichen Taten und den Fund dieser Reliquien wirst du gelobt werden und man wird dich ewig als Heilige verehren!
Dein dankbarer Sohn.
Abb.: Statue Kaiser Konstantins, um 1680 (©MaD, Inv. P 733)